Der Tag des Abschieds ist der Beginn einer Reise: über Geduld und Beständigkeit, Vertrauen und Durchhaltevermögen – und alles, was noch zu sagen bleibt.
Los Angeles ist überall. Auch auf dem alten Farbfernseher, der auf zwei übereinander gestapelten Paletten in einer Ecke von Jons Keller steht, sind die Nachrichten aus South Central zu sehen. Brennende Fahrzeuge. Bewaffnete Soldaten. Flammen, die aus Häusern schlagen. Dann Rodney King, der erfolglos zur Versöhnung aufruft. Es ist Schwarz gegen Weiß. Es ist ein Aufschrei gegen Polizeigewalt. Es ist eine Welt, die gegen die Unterdrückung aufbegehrt.
»Veränderung«, sagt Jon und schaltet den Fernseher aus. Jeder der Umstehenden begreift sofort, wie ernst es ihm damit ist. Seit Wochen schon proben sie in dem frisch renovierten Kellerraum. »Um an die Anfänge anzuknüpfen«, das hatte alle überzeugt. Mit der Renovierung scheint demselben aber nicht nur das Besondere abhanden gekommen zu sein – die rostigen Rohre sind verschwunden, die losen Kabel unter Putz gelegt und statt der flackernden Neonröhren wird der Raum von sanftem Kerzenschein erhellt –, sondern auch der Rock ’n’ Roll. Dass die Band seit mehr als vier Jahren nicht gemeinsam im Studio gestanden hat, macht es nicht besser. »Seht es ein«, sagt einer resigniert, »Rock ’n’ Roll ist tot!«
Die frühen neunziger Jahre stellen in den Vereinigten Staaten nicht nur gesellschaftlich eine Zeit der Veränderung dar. Auch musikalisch hat das Land eine Veränderung erfahren. Die großen Rockbands, die das vergangene Jahrzehnt mit ihrem glatt produzierten Gitarrensound beherrscht haben, sind beinahe über Nacht aus dem Radio verschwunden. An ihre Stelle ist ein neuer Sound aus Seattle getreten – roher, dreckiger Weltschmerz, uniformiert in kariertem Flanell –, und wer sich nicht anpasst, wird von den Kritikern verrissen.
Die Band flieht aus dem Keller nach Vancouver. Den ganzen Sommer verbringt sie dort. Im Studio gelingt es ihr nicht nur, sich neu zu erfinden, sondern auch, sich aufeinander einzuschwören und trotz aller Widrigkeiten neue Zuversicht zu schöpfen. Auch der Titelsong des folgenden Albums, das am 3. November 1992 erscheint, ist davon geprägt: »Keep the Faith« erzählt von der Notwendigkeit, Hoffnung und Glauben angesichts von Herausforderungen zu bewahren. Er spricht von Vergebung, Durchhaltevermögen und der Schwierigkeit, seinen Werten treu zu bleiben. In ihm spiegeln sich die gemeinsamen Härten wider, denen Menschen gegenüberstehen, und der Trost, der in gemeinsamen Erfahrungen und gegenseitiger Unterstützung gefunden werden kann.
Vielleicht sind es genau diese Dinge, die ich den neuen Besitzern unserer sechs Welpen mit auf den Weg geben will. Nicht das leere Versprechen, dass immer alles gut gehen wird. Dass es nie Momente der Frustration und Überforderung geben und keiner der sechs Welpen seinen Menschen jemals die hoch erhobene Mittelkralle zeigen wird. Weil das Leben nicht so ist. Weil früher oder später immer der Tag kommt, an dem die Autorität des Menschen in Frage gestellt wird, und das eben noch so süße Köpfchen auf Biegen und Brechen durch die Wand will.
Da braucht es Durchhaltevermögen, keine schönen Worte. Da braucht es den Willen, den eigenen Werten treu zu bleiben. Sich daran zu erinnern, warum man sich entschieden hat, sein Leben mit einem Hund zu teilen – und all die Mühen, die das Heranwachsen kostet, als Mittel zum Zweck zu sehen. Und schließlich braucht es auch das Wissen, dass es allen anderen genauso geht. Dass jeder blutet. Dass jeder Tage hat, an denen er den kleinen Sturkopf verteufelt. Dass niemand damit alleine bleibt.
Und es braucht Vertrauen. Denn so hartnäckig und stur ein heranwachsender Hund manchmal auch sein mag, steckt in ihm doch ein Wesen, das nach Verbindung sucht. Ein Hund will dazugehören, ein Teil der Familie sein. Fraglos wird er immer wieder versuchen, die Grenzen auszuloten. Aber das ist kein Fehler. Es ist sein Weg, die Welt zu verstehen. Er sucht nach Halt und nach jemandem, der ihm zeigt, wo er hingehört. Wenn ein junger Hund verstanden hat, dass er geliebt und respektiert wird, wird er auch lernen, seinen Platz zu finden – nicht durch Härte oder Unterdrückung, sondern durch Geduld und Beständigkeit.
Das ist es, was ich den neuen Besitzern unserer Welpen mitgeben möchte. Diese kleinen Hunde werden Fehler machen. Aber sie werden auch wachsen. Durch ihre Fehler, gemeinsam mit ihren Menschen. Am Ende ist es nicht die Perfektion, die zählt. Es ist die Reise. Die Bindung, die dabei entsteht, wird alles andere überdauern.
Keep the faith!
© Johannes Willwacher