Mit versagender Stimme vereinbare ich einen Termin in der Onkologie: Border Collie, weiblich, vier Jahre alt. Wie es sich anfühlt, wenn Krebs beim Hund diagnostiziert wird.

It’s coming on Christ­mas, they’re cut­ting down trees,
they’re put­ting up reinde­er and sin­ging songs of joy and peace.
Oh, I wish I had a river I could skate away on.
– »River«, Joni Mitchell

Der Moment, in dem man Schlim­mes erfährt, brennt sich tie­fer ein, als alles ande­re. Nicht nur Schmerz, Trau­er und Fas­sungs­lo­sig­keit kön­nen im Rück­blick betont gut erin­nert wer­den, auch Neben­säch­li­ches bekommt ein beson­de­res Gewicht. Als die ers­ten Bil­der der Ter­ror­an­schlä­ge in New York über die Bild­schir­me flim­mer­ten, schnür­te ich mir gera­de die Lauf­schu­he auf, der Hund vor mir war noch im Geschirr, die Lei­ne dar­an, und im Gegen­satz zu den Bil­dern aus Man­hat­tan, wo der Tag klar und son­nig begon­nen hat­te, war es bei uns win­dig und nass­kalt. Als im Jahr dar­auf eine gute Freun­din von mir uner­war­tet starb, saß ich, das Tele­fon fest ans Ohr gepresst, an dem schlecht ver­schraub­ten Schreib­tisch, der fast die Hälf­te mei­ner Ein­zim­mer­woh­nung ein­nahm, dar­auf auf­ge­schla­gen die »Norton’s Antho­lo­gy of Eng­lish Lite­ra­tu­re«, dane­ben ein Tel­ler mit Gold­mais, die Dose zu 99 Cent. Zwei Tel­ler sind es, die ich sie­ben Jah­re spä­ter erin­ne­re, zwei Tel­ler, die mit damp­fen­der Pas­ta auf dem Ess­tisch ste­hen, zwei Tel­ler, die nicht ange­rührt wer­den, die ich am Tag dar­auf in den Abfall gebe – und die Stim­me mei­ner Mut­ter, die sagt, dass der Hund, der mir alles war, nicht mehr ist.

Zwölf Tage vor Weihnachten

»Wir müs­sen nach dem Befund des Fein­na­del­aspi­rats von einem Schild­drü­sen­kar­zi­nom aus­ge­hen«, höre ich die Stim­me des Tier­arz­tes sagen und lege den Kugel­schrei­ber aus der Hand. Vom Brief­um­schlag vor mir grinst mich ein hin gekrit­zel­ter Hund an, der eine Afro­pe­rü­cke trägt, die mit krei­sen­den Stri­chen halb aus­ge­malt ist, und wäh­rend der Arzt wei­ter redet, den­ke ich nur, dass ich mich dar­an spä­ter nicht erin­nern müs­sen will. Kaum auf­ge­legt, das nächs­te Gespräch – der Hund vor mir grinst noch immer –, und mit ver­sa­gen­der Stim­me ver­ein­ba­re ich einen Ter­min in der Onko­lo­gie: Bor­der Col­lie, weib­lich, vier Jah­re alt. Ida.

Wäh­rend Schild­drü­sen­tu­mo­ren noch bis in die 1960er Jah­re einen Anteil von etwa 17 Pro­zent der mali­gnen Tumo­ren des Hun­des dar­stell­ten, geht man heu­te, bedingt durch die bes­se­re Ver­sor­gung mit Jod­salz in der Tier­nah­rung, von einem Anteil von unter 2 Pro­zent aus. Eine Prä­dis­po­si­ti­on wird für ver­schie­de­ne Ras­sen ange­nom­men – bei­spiels­wei­se sol­len Boxer, Gol­den Retrie­ver, Dackel oder Pudel häu­fi­ger betrof­fen sein –, eine Geschlechts­prä­dis­po­si­ti­on besteht jedoch nicht. Durch­schnitt­lich sind Hun­de, bei denen ein Schild­drü­sen­tu­mor fest­ge­stellt wird, bereits über zehn Jah­re alt, neue­ren Stu­di­en zufol­ge kön­nen krank­haf­te Ver­än­de­run­gen der Schild­drü­se aber schon sehr viel frü­her auf­tre­ten. Der weit­aus größ­te Anteil der Neo­pla­si­en ist bös­ar­tig, nur in etwa zehn Pro­zent der Fäl­le han­delt es sich um ein gut­ar­ti­ges Geschwulst. Wäh­rend ein pal­pa­to­risch frei beweg­li­cher Tumor in der Regel gut zu ope­rie­ren und mit der güns­tigs­ten Pro­gno­se ver­bun­den ist, stel­len inva­si­ve Tumo­ren, die fest mit dem umlie­gen­den Gewe­be ver­wach­sen sind, sowie das Vor­han­den­sein von Meta­sta­sen deut­li­che Ein­schrän­kun­gen dar: Sta­tis­tisch sind nur etwa 20 Pro­zent der Tumo­ren ope­ra­bel, zum Zeit­punkt der Dia­gno­se­stel­lung las­sen sich bereits bei 40 bis 60 Pro­zent der unter­such­ten Tie­re wei­te­re Tumo­ren in ande­ren Orga­nen nachweisen.

Drei Tage später

Ich schlie­ße das Brow­ser­fens­ter und star­re auf den lee­ren Bild­schirm. Wäh­rend ich mich bemü­he, mir ein­zu­re­den, dass wir den Tumor früh­zei­tig ent­deckt haben – seit­dem ist kei­ne Woche ver­gan­gen –, und es unwahr­schein­lich ist, dass sich in so kur­zer Zeit bereits Toch­ter­ge­schwuls­te gebil­det haben, spie­len sich vor mei­nem inne­ren Auge ganz ande­re Sze­nen ab – und statt Zuver­sicht ist da nur noch Angst. Dirk sagt, wenn das so ist, fah­ren wir noch ein letz­tes Mal ans Meer. Ich sage, ich weiß nicht – und fra­ge mich, ob wir einen Tan­nen­baum auf ihrem Grab pflan­zen sollen.

Man schätzt, dass einer von vier Hun­den im Lau­fe sei­nes Lebens an Krebs erkrankt. Ähn­lich wie in der Human­me­di­zin müs­sen viel­fäl­ti­ge Ursa­chen dafür in Betracht gezo­gen wer­den. In den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren hat die Vete­ri­när­me­di­zin deut­li­che the­ra­peu­ti­sche Fort­schrit­te in der onko­lo­gi­schen Pra­xis gemacht – eine Hei­lung kann, soweit mög­lich, daher viel häu­fi­ger erreicht wer­den, als ange­nom­men. Neben der klas­si­schen Tumor­chir­ur­gie, die bei ent­spre­chen­den Vor­be­din­gun­gen noch immer mit den güns­tigs­ten Pro­gno­sen ver­bun­den ist, bie­ten Che­mo­the­ra­pie und Bestrah­lung zusätz­li­che Behand­lungs­mög­lich­kei­ten, um einen Tumor, der bereits weit fort­ge­schrit­ten ist, zurück­zu­drän­gen und die Lebens­qua­li­tät des Hun­des auf­recht­zu­er­hal­ten oder wie­der­her­zu­stel­len. Kann eine Lebens­ver­län­ge­rung aber nur erreicht wer­den, indem zu Maß­nah­men gegrif­fen wird, die die Lebens­qua­li­tät des Hun­des stark beschnei­den wür­den, so bleibt oft nur eine pal­lia­ti­ve Behand­lung – und schließ­lich der Abschied vom gelieb­ten Vierbeiner.

Eine Woche vor Weihnachten

»Das Dunk­le hier«, sagt der Tier­arzt und kreist mit dem Cur­sor über einem Aus­schnitt der Com­pu­ter­to­mo­gra­phie, »das ist der Tumor«. Es ist Mitt­woch, eine Woche vor Weih­nach­ten, und wäh­rend er mir erklärt, dass die Raum­for­de­rung rechts­sei­tig zwar nah an der Tra­chea liegt, eine Ope­ra­ti­on aber den­noch als Mit­tel der Wahl zu gel­ten habe, wacht Ida in einem der Neben­räu­me aus der Nar­ko­se auf. »Meta­sta­sen«, sagt er, bewegt den Cur­sor von links nach rechts und lässt den sich rasch auf­blät­tern­den, mono­chro­men Quer­schnitt der Bewe­gung sei­ner Hand fol­gen, »haben sich nicht gefun­den«. Erleich­tert atme ich auf. Er erklärt noch die­ses und jenes – ich möch­te bloß vor­spu­len, das alles über­sprin­gen. Dann: »Wäre Ihnen Diens­tag recht, gleich mor­gens, vier­tel nach sie­ben?« Recht wäre mir alles. Am liebs­ten sofort.

Einen Tag vor Weihnachten

Vor kaum zwei Stun­den habe ich Ida in der Kli­nik zurück­ge­las­sen und bin, die abge­wetz­te Leder­lei­ne fest an mei­ne Brust gepresst, allei­ne zurück zum Auto gelau­fen. Vier­zehn Uhr, frü­hes­tens, hieß es, kön­ne ich sie wie­der abho­len – vor­aus­ge­setzt, dass die Ope­ra­ti­on ohne Kom­pli­ka­tio­nen ver­läuft. »Eine Lei­ne ohne Hund ist nur ein Stück Leder«, den­ke ich – die Digi­tal­an­zei­ge gegen­über pulst rhyth­misch 9-3-0 –, »und ein Leben ohne Hund ist nichts, gar nichts«.

Dann: zwei Anru­fe in Abwe­sen­heit, die Kli­nik, viel zu früh, und ich kopf­los. Kom­pli­ka­tio­nen. Mei­ne Hän­de zit­tern. Kom­pli­ka­tio­nen. Die Rück­ruf­tas­te. Kom­pli­ka­tio­nen. War­te­schlei­fe. Kom …

Die Ope­ra­ti­on ist gut ver­lau­fen, ihre Hün­din schon wach. Sie steht schwanz­we­delnd in ihrer Box und war­tet dar­auf, abge­holt zu werden … 

Leben – das bes­te, das größ­te Weih­nachts­ge­schenk. Mehr kann man sich, kann man nie­man­dem wünschen.

© Johannes Willwacher