Über Wölfe im Westerwald und Welpen mit Wolfskrallen – und warum beides zur Natur gehört.
Jetzt geht und sucht Wackersteine,
damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch
füllen, solange es noch im Schlafe liegt.
Die sieben Geißlein
Vor unserer Haustür lebt ein Wolf. Nicht etwa der böse Wolf aus dem Märchen, der sich nachts heimlich in die Häuser stiehlt, um seinen Heißhunger auf Großmütter zu stillen – nein, vielmehr ist es eine scheue Wölfin, die sich im vergangenen Jahr in den Wäldern um den Stegskopf niedergelassen hat, und deren Spuren sich seitdem mancherorts gefunden haben. Den Hunden und mir ist die besagte Wölfin bei unseren Spaziergängen noch nie begegnet – weder auf den breiten Panzerstraßen, die weitläufig um das verlassene Gelände führen, noch auf den verbotenen Pfaden, die sich abseits der beschrankten Wege schon bald im Unterholz verlieren –, und auch die Spuren der jungen Wölfin scheinen bislang nur spärlich gesäht: die Meldungen über Sichtungen sind genauso selten, wie die Berichte über Einbrüche in die Schafherden, die auf den großen Offenflächen des ehemaligen Truppenübungsplatzes weiden. Die Angst vor dem Wolf ist trotzdem zu spüren – gerade wenn man auf die Stimmen der besorgten Schafzüchter und Landwirte hört –, und während der heimgekehrte Wolf dem natürlichen Gleichgewicht im Wald nur gut tun kann, wird laut über eine mögliche Bedrohung, über den Abschuss debattiert. »Die Natur ist nur so lange schützenswert, wie sie berechenbar bleibt«, denke ich am Sonntagmorgen bei mir, als die Hunde am Wegesrand im Borstgras schnuppern und ich den Blick über die verfallenen Bunkeranlagen schweifen lasse, die längst von Moos und Gräsern überwuchert worden sind, »das gilt ganz bestimmt nicht bloß für den Wolf, das gilt auch für die Zucht«.
Als ich mir vor zwei Wochen – nachdem auch der letzte Welpe geboren worden und in der Wurfkiste endlich Ruhe eingekehrt war – unsere Welpen ein wenig genauer betrachtete, fielen mir zwei Besonderheiten auf, die ich noch bei keinem anderen Wurf zuvor hatte beobachten können. Während mir von der Knickrute des letztgeborenen Welpen – einer angeborenen und möglicherweise erblichen Deformation im Wirbelkörper, die zumeist im letzten Drittel der Rute auftritt, und als zuchtausschließender Fehler anzusehen ist –, bereits von anderen Züchtern berichtet worden war, hatte ich von den Wolfskrallen, die mir an beiden Hinterläufen des drittgeborenen Welpen auffielen, bislang nur gelesen. Grundsätzlich sind jene bei vielen Hütehundrassen vorhanden – bei manchen, wie dem Pyrenäenberghund oder dem Briard, sogar vom Rassestandard verlangt –, beim Border Collie treten sie im Allgemeinen aber nur äußerst selten auf.
»Wie selten, ist schwer zu sagen«, schrieb mir unsere Zuchtwartin, die ich am darauffolgenden Tag gleich dazu befragte, »gerüchteweise werden Wolfskrallen von den meisten Züchtern schon in den ersten Lebenstagen der Welpen still und heimlich entsorgt«. Auch davon hatte ich schon gehört, befragte aus Neugier aber schließlich noch unseren Tierarzt dazu. »Bei der rudimentären Form, bei der die namensgebende Kralle ohne knöcherne Verbindung lose in der Haut aufgehangen ist, treten oft Verletzungen auf«, sagte mir dieser, »das spricht meist für einen frühen operativen Eingriff«. Bei dem fraglichen Welpen, gab ich zurück, waren aber nicht bloß die Krallen, sondern auf beiden Seiten auch die Zehen vollständig ausgebildet, ein Eingriff somit juristisch ausgeschlossen. »Was das Tierschutzgesetz verbietet, ist vielen egal«, erwiderte mein Gegenüber, »und wo der eine Tierarzt nicht Willens ist, wird vom Züchter eben der nächste oder übernächste aufgesucht«, um nach kurzem Überlegen hinzuzusetzen, dass es längst Studien gäbe, die der fünften Zehe des Hundes nicht nur eine eindeutige Funktion im Bewegungsablauf zusprechen, sondern auch auf Gelenkerkrankungen hinweisen würden, die bei Hunden, denen die Wolfskralle entfernt wurde, gehäuft auftreten. Grundlos und wider der Natur handeln, also? Nur der Schönheit wegen?
Ein russisches Sprichwort besagt, dass der Wald, in dem ein Wolf lebt, gesund ist. Ich sage, dass ein Welpe nicht krank ist – nicht entstellt, nicht behandelt werden muss –, nur weil er Wolfskrallen hat. Zucht bedeutet, sich auch immer wieder mit der Unberechenbarkeit derselben auseinanderzusetzen, und zweifelsohne auch, das Wissen über die eigenen Linien zu hinterfragen. Vor allem aber wohl anzunehmen, was die Natur selbst so vorgesehen hat. Auch wenn das bedeutet, mit den Wölfen zu heulen. Der besagte kleine Welpe kann das übrigens schon ziemlich gut.
© Johannes Willwacher