Im Schneckenhaus

Über Licht und Schatten, Krisen und Chancen – und über Dinge, die anders sein werden, wenn der Morgen kommt.

Some­whe­re bey­ond the barricade
is the­re a world you long to see?
Fina­le, Les Mise­ra­bles (1980)

Im ers­ten Licht des Tages schim­mern die drei blass grau­en Schie­fer­bruch­stei­ne, unter denen du dei­ne letz­te Ruhe gefun­den hast, als habe man sie mit Gold über­gos­sen, und auch die klei­ne Schne­cke aus Bron­ze, die sich neu­gie­rig über die scharf­kan­ti­ge Spit­ze schiebt, scheint sich dem Son­nen­licht zuzu­wen­den. Wenn ich früh am Mor­gen allein auf der Gar­ten­bank sit­ze, dann schaue ich stumm dabei zu, wie das Licht nach und nach die Schat­ten ver­drängt – und manch­mal, wenn die Stil­le kaum aus­zu­hal­ten ist, rufe ich dir in Gedan­ken lei­se »Guten Mor­gen!« zu. Viel­leicht bil­de ich es mir nur ein, aber dann und wann – wenn der Wind das Efeu zit­tern lässt, das den Pflau­men­baum über dei­nem Grab fast voll­stän­dig umrankt – spü­re ich, wie du zur Ant­wort zag­haft in mein Ohr hin­ein flüs­terst. So wie du es immer getan hast, am Mor­gen. Und mit der Hoff­nung, das doch irgend­et­was bleibt, beginnt schließ­lich der Tag.

Man sagt, das jede Kri­se immer auch eine Chan­ce ist – eine Mög­lich­keit, die bis­he­ri­gen Erfah­run­gen, Wer­te und Zie­le in Fra­ge zu stel­len und eine nach­hal­ti­ge Neu­aus­rich­tung her­bei­zu­füh­ren. Wel­che Chan­ce die gegen­wär­ti­ge gro­ße Kri­se für unse­re Gesell­schaft bedeu­ten kann, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len – weder als Züch­ter, noch als Mensch. Für mich selbst wer­fen die gro­ße und die klei­ne Kri­se aber vor allen Din­gen die Fra­ge der Selbst­ver­ständ­lich­keit auf. »Brau­che ich das?«, »Tut mir das gut?« oder »Bin ich dank­bar dafür?«, sind Fra­gen, die sich für mich aus dem unfrei­wil­li­gen Rück­zug ins Schne­cken­haus erge­ben, und die neben dem All­täg­li­chen auch Zwi­schen­mensch­li­ches mei­nen: »Brau­che ich die­sen Kon­takt?«, »Tut mir die­se Freund­schaft noch gut?« oder »Bringt man mir die glei­che Wert­schät­zung und Auf­merk­sam­keit ent­ge­gen?«. Was bleibt, wird sich zei­gen. Wenn der Mor­gen kommt.

© Johannes Willwacher