Der Züchter als Eintänzer: über wilde Zeiten im Berlin der Zwanziger – und warum mancher auch hundert Jahre später mit gebrochenem Herzen zurückbleibt.
I’m just a Gigolo and everywhere I go
people know the part I’m playing.
Louis Armstrong (1930)
»Die mit dem langen Hals hat mich nach meinem Namen gefragt«, schreibt Billy Wilder in einer Reportage, die im Januar 1927 in der Berliner Zeitung erscheint, »sie wolle nun, da ich hier Tänzer bin, öfter kommen«. Ein Jahr zuvor ist der Zwanzigjährige von Wien nach Berlin gekommen. Kaum Geld in den Taschen und kein Zimmer für die Nacht, läuft er dort auf dem Potsdamer Platz einem Bekannten in die Arme, der sich nach einem gemeinsamen Diner im Kempinski bemüßigt fühlt, dem späteren Filmregisseur unter dieselben zu greifen. »Sie haben doch eine Ahnung, wie man in Gesellschaft sich verbeugt, wie man einer Dame die Hand küsst?«, fragt er ihn. Während Wilder zuerst nicht begreift, überzeugt ihn an Ende doch das Bündel an Hundertmarkscheinen, das der Bekannte aus seiner Brieftasche zieht – und tags darauf stellt er sich schon als Eintänzer im feinen Hotel Eden vor.
»Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkelten und taumelten dahin im Jazz-Delirium«, schreibt mit Klaus Mann ein Zeitgenosse Wilders. Auch Mann, der älteste Sohn des weltbekannten Nobelpreisträgers, kommt in den Zwanziger Jahren immer wieder nach Berlin, so dass es kaum verwundert, dass er die Kulisse der Stadt im Umbruch auch für die ersten eigenen Gehversuche als Schriftsteller übernimmt. Das Berlin der Zwischenkriegszeit tanzt. Jeder liebt, wen er lieben will, und die alten Standesgrenzen gelten nicht mehr. Weil es sich alleine aber schlecht tanzt – nicht wenige der tanzwilligen Damen sind nach dem Krieg verwitwet, oder haben einen Partner an ihrer Seite, der sich auf dem Parkett als unbrauchbar erweist –, sind Miettänzer gefragt.
»Wenn das Herz dir auch bricht, zeig’ ein lachendes Gesicht, man zahlt und du musst tanzen«, wird die Geschichte eines ebensolchen auch in einem Schlager erzählt, den Julius Brammer 1924 im Berliner Hotel Adlon schreibt. Auch dort gehen damals nicht wenige schöne, arme Gigolos ein und aus – verarmte Adelige und entlassene Offiziere, die sich aus ihrem früheren Leben nicht viel mehr als ein tadelloses Benehmen und ein wenig tänzerisches Können haben retten können, denen die Damenwelt aber genauso deswegen zu Füßen liegt. Oder besser: zahlend auf den Füßen steht. »Paid for every dance, selling each romance, every night some heart betraying«, heißt es schließlich auch in in der ersten englischsprachigen Aufnahme des Schlagers, die Louis Armstrong 1930 in den USA einspielt. Der Tänzer verkauft Liebe und Aufmerksamkeit. Sein Herz und sein eigenes Schicksal sind nicht von Belang.
Züchterinnen und Züchtern geht es streng genommen nicht anders. Allein, dass das Herz, das sie zum Verkauf anbieten, sich auf vier Beinen bewegt. Dem eigenen fällt es aber trotzdem nie leicht, einen Welpen herzugeben. Einen, der in die eigenen Hände geboren worden und über Wochen liebevoll aufgezogen worden ist. Zwar mag es Züchterinnen und Züchter geben, bei denen der Zuchtgedanke eher am Gewinn orientiert ist, und die bei einem Welpen weniger an ein Stück ihres Herzens, mehr an einen unterschriebenen Kaufvertrag denken – den meisten merkt man aber immer öfter eine gewisse Schwermut an, je näher der Tag der Abgabe rückt.
Zugegeben fällt es leichter, sich zu trennen, wenn klar ist, das ein Welpe bleiben darf. Das geht aber nicht immer. Die von vielen Züchterinnen und Züchtern getroffene Aussage, dass jeder Wurf so geplant werde, als ob ein Welpe bleiben solle, zielt zwar vordergründig darauf ab, einen sogenannten Verkaufswurf aufzuwerten, offenbart darüber hinaus aber noch eine weitere Gegebenheit: den wenigsten ist es möglich, aus jedem Wurf einen Welpen zu behalten. Die Gründe beschränken sich dabei nicht allein auf finanzielle Fragen – je höher die Anzahl der gehaltenen Hunde, desto höher auch die regelmäßigen Kosten –, sondern hängen auch mit den Ansprüchen an die Haltung zusammen. Gerade einer anspruchsvollen Rasse, wie dem Border Collie, will es kaum genügen, nur als Zucht-, Ausstellungs- und Familienhund gehalten zu werden. Um einer größeren Anzahl an Hunden gerecht werden zu können – ihnen eine entsprechende Ausbildung zukommen zu lassen und sie über die Jahre hinweg sinnvoll und artgerecht auszulasten – braucht es also Zeit. Zeit, die nicht viele Züchterinnen und Züchter aufbringen können, wenn sie neben der hobbymäßigen Hundezucht auch noch einer geregelten Arbeitstätigkeit nachgehen müssen. »Im Alltag können wir es vielleicht schaffen, fünf oder sechs Hunden gerecht zu werden«, habe ich deshalb einmal gesagt, »das aber auch nur, wenn sich zwei Menschen die Fürsorge und das Training teilen, und die Hunde altersmäßig gut gestaffelt sind«. Der Verstand sorgt also dafür, dass auch besonders vielversprechende Welpen immer wieder ziehen gelassen werden müssen. Das Herz weint trotzdem bei jedem. Dieses bescheuerte Herz.
Mir geht es gerade nicht anders. Nachdem aus den letzten beiden Würfen unserer Hündin drei Welpen bei uns geblieben sind, von denen zwei die Zuchtlinie weiterführen werden, stand schon bei der Wurfplanung fest, dass diesmal kein Welpe bleiben kann. Zu wissen, dass unter den zukünftigen Besitzern verständige Menschen sein werden – solche, die bereits Erfahrung im Ausstellungsring gesammelt haben, genauso wie solche, die planen, den Welpen unter entsprechenden Voraussetzung zur Zucht einzusetzen –, macht es zwar leichter, alle herzugeben. Aber eben niemals leicht. »When the end comes, I know they’ll say just a gigolo, as life goes on without me«, seufze deshalb auch ich am Ende der sechsten Lebenswoche unserer Welpen.
Kaum mehr, als zwei Wochen sind es noch. Zeit, um noch ein bisschen mit den Welpen zu tanzen.
© Johannes Willwacher