Vierundzwanzig Türchen – das sind vierundzwanzig Möglichkeiten: über die, die nach einem Welpen suchen, und die, die am Ende der Suche stehen.
You could help me out of there,
being mine forever.
The Way To Your Heart, Soulsister (1988)
Das Telefon klingelt, als ich gerade dabei bin, das Blech in den vorgewärmten Ofen zu schieben. Schnell lasse ich die Ofentür zuschnappen, um dann flugs über die Hunde hinwegzusteigen, die ausgestreckt auf den Küchendielen liegen, und unter einem Stapel von Papieren, der sich auf dem Küchentisch türmt, nach dem Telefon zu suchen. »Es ist Samstagabend, und pünktlich zum ersten Advent klopfen nicht nur die ersten Schneeflocken an die Fensterscheiben«, denke ich, als ich einen Blick auf das Display werfe, »ein unbekannter Anrufer kann in der Vorweihnachtszeit eigentlich nur eines bedeuten!«
Haben Sie gerade Welpen zur Abgabe?
Rückblickend fällt es mir schwer, mich zu erinnern, ob der Anrufer sich vorgestellt hat oder nicht – oder ob sein Name im Rauschen der schlechten Mobilverbindung untergegangen ist –, rückblickend tut das aber vielleicht auch gar nichts zur Sache. Warum? Weil das Telefon in der Vorweihnachtszeit beinahe ständig klingelt, und damit auch die Grenzen zwischen den Herren Meyer, Müller und Schmidt verschwimmen, die am Ende ohnehin immer das Gleiche wollen. »Haben Sie gerade Welpen zur Abgabe?«, lautet also auch diesmal die Frage.
Nach zehn Jahren, in denen ich solche und ähnliche Welpenanfragen beantwortet habe, meine ich schon am Tonfall des Anrufers erkennen zu können, wie das Gespräch weiter verlaufen wird. Weil dieser fast genauso kalt klingt, wie das Schneetreiben vor dem Fenster, bin ich innerlich schon auf die zweite Frage gefasst, die nicht nur bei diesem unweigerlich folgt: »Was nehmen Sie denn für einen Welpen?« In den vergangenen Jahren habe ich oftmals gedacht, das Zähneknirschen der Anrufer hören zu können, wenn ich ihnen den Kaufpreis für einen Welpen aus unserer Zucht genannt habe. Seitdem die Pandemie aber dafür gesorgt hat, das sogar für manchen papierlosen Welpen mehr aufgerufen wird, als ehedem für einen Rassehund, ist das anders. »Aha, so so«, wird das vermeintliche Schnäppchen kommentiert, »aber vor Weihnachten ist bei Ihnen nichts mehr zu machen?«
Meine Tür steht offen, wenn …
In der Vorweihnachtszeit schmückt man das Haus, um es warm und einladend zu machen. Man stellt Kerzen in die Fenster und hängt einen Kranz an der Haustüre auf, damit sich jeder, der kommt, gleich willkommen fühlt. Drinnen duftet es endlich einmal nicht nur nach nassem Hund, vielmehr nach Zimt und Nelken – und wenn sich die Ofentür öffnet, vielleicht auch nach warmem Gebäck. Nachdem das Gespräch beendet ist – »Dann müssen wir eben woanders schauen« –, riecht es an diesem Samstagabend aber am ehesten nach Ärger: »Weil Welpen eben keine Geschenke sind!«
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit«, heißt es in einem Kirchenlied, das wie kein Zweites für die Adventszeit steht. »Ich bin eingeladen, ich werde erwartet und bin willkommen«, wollen diese Liedzeilen dem Zuhörer bedeuten. Die freundliche Verbundenheit – die Tür, die jedem jederzeit offensteht – wird aber wohl nicht nur von uns Züchtern nur noch ungern gewährt, wenn wahllos an jede Tür geklopft, oder gleich mit derselben ins Haus gefallen wird. Wer sich einen Hund ins Haus holt, geht eine verantwortliche Verbindung ein – und ich glaube nicht, dass es vermessen ist, mir von meinen Welpeninteressenten die gleiche Verbindlichkeit zu wünschen: meine Tür steht offen, wenn eure Herzenstür offen steht.
Ins Züchterherz geschaut
Der Adventskalender – in diesem Jahr gibt es vierundzwanzig Mal das, was mich glücklich macht. Und vielleicht auch das eine oder andere glückliche Gesicht – beim Blick in den Briefkasten.
1. Dezember
2. Dezember
3. Dezember
Hundeerziehung
»Friss keinen Schnee!«,
sagst du zu dem Hund,
der so tut, als wär’ jedes
Wort aus deinem Mund,
bloß Schneegriesel,
der am Boden zerrinnt,
und deshalb gleich noch
eine Schnauze voll nimmt,
um sich später, zuhause,
in die Ecke zu hocken
und geronnenen Schnee
auf den Teppich zu spucken.
»Friss keinen Schnee!«,
das hast du gesagt –
der Hund aber hat dich nicht
nach deiner Meinung gefragt.
4. Dezember
5. Dezember
6. Dezember
Spuren
Über Nacht hat es geschneit. Nur wenig zwar, aber dort, wo die Pfoten der Hunde noch keine Spuren hinterlassen haben, ist die Schneedecke geschlossen und weiß. Ich stehe in der Gartentür, noch unschlüssig, ob ich mir die wattierte Jacke überwerfen und mich in die Winterstiefel zwängen soll, und schaue den Hunden zu, die mit gesenkten Köpfen und zitternden Nasen immer wieder vorübereilen.
Nell folgt mit hoch erhobener Rute einer Spur, die von dem Holzstoß unter dem Zwetschgenbaum quer über den Hof bis zum Schuppen verläuft, um schließlich lautstark ihren Unmut kundzutun und mit beiden Pfoten an der verschlossenen Tür zu kratzen. Zion hat derweil ein Eichhörnchen aufgescheucht, das sich im Geäst einer dünnen Weide kopfüber an einen schaukelnden Zweig klammert und schimpfend mit Nell mitzuhalten versucht. Immer wieder richtet sich der Rüde auf den Hinterläufen auf – mal links, mal rechts von der Weide –, und immer wieder kann ich durch die kahlen Äste der Hecke beobachten, wie er vergeblich zum Sprung ansetzt: das Eichhörnchen hockt viel zu weit oben. Nach einer Weile lässt er davon ab – vielleicht, weil das Eichhörnchen sich kaum noch bewegt hat, vielleicht, weil ihm das Spiel selbst längst zu langweilig geworden ist –, und auf mein Rufen kommt er freudig durch den Schnee gesprungen. »Was«, frage ich ihn, als er sich an mir vorbeigezwängt und den Schnee aus seinem Fell geschüttelt hat, »was wäre denn, wenn Ida in dem jungen Eichhörnchen steckt?« Zion dreht den Kopf und scheint nachzudenken. Weil er daraufhin bloß hechelt und mir die Antwort schuldig bleibt, gebe ich mir dieselbe selbst: »Dann hätte sich rein gar nichts geändert«.
Manche Spuren bleiben. Für immer.
7. Dezember
8. Dezember
9. Dezember
Glühwein
Bordeaux Collie
steht da allen Ernstes.
Ein Bordeaux Collie,
der soll es sein.
Bei Bordeaux
denk’ ich vielmehr
an einen längst
vergangenen Sommer –
und nebenbei
vielleicht an Wein.
In Bordeaux sind wir
damals bloß gestrandet,
weil der Fiat in Rauch
aufgegangen ist,
und mit dem Zug
schließlich wieder
außer Landes,
hin zur Grenze –
Englisch: Border –
Grande Merde, großer Mist!
Scheißnocheins,
denk ich also,
beim Border Collie
aus Bordeaux.
Und hab’ aus Gründen,
altem Frust,
dann doch auf schweren
Rotwein Lust.
10. Dezember
11. Dezember
12. Dezember
Weihnachtsgebäck
Zwei Stunden schon habe ich mich mit der Schneeschaufel rund um das Haus abgemüht, als die Hunde endlich angeschirrt hinter dem Gartenzaun stehen. Weil der neuerliche Wintereinbruch es kaum zulässt, die üblichen Wanderparkplätze anzusteuern, entscheide ich an diesem Morgen, das Auto stehen zu lassen und mit den Hunden den Fußweg durch die Siedlung bis zum Feld laufen. Wir haben kaum die Bundesstraße hinter uns gelassen, die sich gleich hinter der Siedlung scharf durch die Landschaft schneidet, als Nell sich zum ersten Mal stur gegen die Leine stemmt und stehen bleibt. Ihre rechte Vorderpfote ist angewinkelt, Schnee klebt zwischen den Zehen. »Ach, Omi«, seufze ich also, streife die Handschuhe ab und beginne, den Schnee von den Pfoten der zwölfjährigen Hündin zu pulen. »Jetzt besser?«
So viel besser kann es schlussendlich nicht gewesen sein, denn nach kaum zweihundert Metern bleibt sie erneut in einer Schneewehe stehen. Wieder streife ich die Handschuhe ab, wieder werden beide Vorderpfoten von Schnee und Eis befreit – und weil gerade ältere Damen gerne auf besondere Zuwendung bestehen, drücke ich ihr noch einen Hundekeks in den Fang. »Gut jetzt?« Wir kommen gerade einmal fünfzig Meter weiter.
Wie oft sich das Ganze wiederholt, bis wir die Hälfte der Schleife über das Feld geschafft haben, kann ich beim besten Willen nicht sagen – allein, dass sich zwischen den Zehen der angewinkelten Pfote von Mal zu Mal immer weniger Schnee befindet, steht eindeutig fest. Als wir uns schon auf dem Rückweg befinden, der über den alten Bahndamm und vorbei am Kasernengelände führt, gehen mir schließlich die Hundekekse aus. Weil Nell ungläubig guckt, als die nackte Hand nicht wie zuvor zur Jackentasche wandert, stülpe ich dieselbe nach außen – und beginne gleichwohl zu verstehen. Den Nachhauseweg nimmt sie dann auch ohne Murren. Mit dicken Schneebällen zwischen den Zehen.
13. Dezember
14. Dezember
15. Dezember
Winterspaziergang
Da wo sie Langlaufen
kannst du nur kurz laufen,
weil du sonst mitlaufen,
zwischen Ski und Stock
hindurchlaufen und mit den
stockbewährten Handschlaufen
des dahergelaufenen Langläufers
in der Schnauze zu mir
zurückgelaufen kämst.
Würde, könnte – fehlt ja noch!
16. Dezember
17. Dezember
18. Dezember
All too well
Es ist kurz nach sieben, als ich mich mit dem letzten Schluck Kaffee an den langen Tisch im Esszimmer setze, der nur von dem leuchtenden Apfel des schlafenden Macbooks erhellt wird. Unter dem Tisch hat sich Heidi ausgestreckt – die Pfoten der Vorderläufe um eines der Tischbeine gewunden –, und weil meine kalten Füße mir die halbe Stunde noch nicht verziehen haben, die ich als ersten Gang des Tages mit den beiden Junghunden im Garten verbracht habe, ist das warme Fell der Hündin für dieselben eine willkommene Einladung. Ich leere die Tasse, klappe das Macbook auf und starte die Musikwiedergabe, die ein Klick am Vorabend mitten im Titel angehalten hat. »And you call me up again just to break me like a promise, so casually cruel in the name of being honest«, heißt es da – und selbst die Hunde wären nach den Wochen der Endloswiederholungen wohl in der Lage, jede einzelne Zeile mitzusummen. Tatsächlich ist es aber bloß Zion, der seinen Kopf brummend in meinen Schoß schiebt, während ich den Cursor auf den geflügelten Briefumschlag zubewege, der sich am unteren Rand des Bildschirms befindet.
Die eine Hand verliert sich also in der dichten Halskrause des noch immer brummenden Rüden, indessen die andere eine ungelesene Nachricht öffnet, die mit »Absage« überschrieben ist. Ich überfliege die Zeilen, in denen jemand in knappen Worten darlegt, nicht länger auf der Warteliste für einen Welpen stehen zu wollen, kann mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, wer dieser Jemand sein soll. Nach langem Suchen finde ich endlich die E-Mail, die dem vorausgegangen ist – eine, die auf den Dezember 2020 datiert –, und habe damit auch meine Erklärung: wer es beim Mailkontakt belässt, schafft es nur selten in Erinnerung zu bleiben. Und noch seltener auf die Warteliste selbst.
Ein wenig ist das vielleicht, wie Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Dem einen mag es genügen, beim erstbesten Angebot zuzuschlagen – den Artikel in den Warenkorb zu legen und die Bestellung abzuschicken –, der andere aber braucht deutlich mehr Zeit, um eine Kaufentscheidung zu fällen – muss den Artikel selbst in den Händen halten, ihn von allen Seiten betrachten, und erst einmal nachfühlen, ob dieser wirklich passt. Als Züchter verlasse ich mich nur ungern auf schöne Worte. Auf unsere Warteliste schafft es deshalb auch nur, wer schon einmal an dem langen Tisch im Esszimmer gesessen hat – jemand, bei dem ich nicht nur die schönen Worte, sondern auch das Gesicht erinnern kann –, mit einem Hund auf dem Schoß und einem auf den Füßen. »I remember it all too well.« Weil auch das ein bisschen wie Weihnachten ist.
19. Dezember
20. Dezember
21. Dezember
So nett
Es klingelt schon wieder, komm’ grad’ von draußen,
hab’ die Stiefel noch an und ringe nach Luft.
»Nen Hund«, höre ich, möcht’ jemand gern kaufen,
und befreie mich flugs von der Winterkluft.
Die Antwort folgt aus dem Effeff und sofort –
als Züchter kennt man solche Anfragen ja –,
da fällt mir der Jemand entschieden ins Wort:
»Ja nun, haben Sie denn auch Mischlinge da?«
Ich stocke und schwurble von Rassehunden,
der Jemand sagt: »Ups, aus Versehen gedeckt«,
und meint noch: »Ach … auch ohne die Urkunden
wär’ so ein Mischlingshund doch wirklich so nett!«
»Wenn’s doch mal passiert, dann melden Sie sich?«
Engel der Weihnacht, hier braucht es mehr Licht!
22. Dezember
23. Dezember
24. Dezember
Wie sollte es anders sein: hinter dem 24. Türchen bellt es …
© Johannes Willwacher